29.06.2025

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Stadt der Zukunft

01.03.1998
Die Lebensqualität ist in Taichung wegen des angenehmen Klimas, niedrigen Preisniveaus und großen kulturellen Angebots sicher besser als in Taipei.
In den meisten größeren Häfen der Welt werden zu jeder Zeit Containerschiffe der mächtigen taiwanesischen Firma Evergreen Corporation be- und entladen. Auch auf vielen internationalen Flughäfen starten und landen Flugzeuge der gleichfalls zur Evergreen Co. gehörenden EVA Air. Ein Evergreen-Hotel gibt es bis jetzt jedoch nur in einer Stadt der Welt: Taichung in Zentraltaiwan. Danny Lin, stellvertretender Generalmanager des Evergreen Laurel Hotels, ist seit der Eröffnung des Hotels vor fünf Jahren dabei und hat auch bei der Vorbereitung des Betriebes mitgewirkt. Nach seinen Worten entschied sich der Evergreen-Konzern beim Einstieg ins Hotelgewerbe wegen des Potentials der Stadt für Taichung. "Die Zukunft dieser Branche hängt besonders von dem wirtschaftlichen Entwicklungspotential der jeweiligen Gegend ab. Taichung hat den Standort, die Verkehrs- und Transportmittel, den Raum und das passende Umfeld für wirtschaftliche Entwicklung, und das birgt große Möglichkeiten für dieses Hotel", glaubt Lin.

Bei diesen Vorteilen sollte es nicht überraschen, wenn Taichung zum wirtschaftlichen Dreh- und Angelpunkt Zentraltaiwans würde. Vergangenes Jahr fielen allein 40 Milliarden NT$ (2,2 Milliarden DM) Umsatzsteuer an, auch wenn die Stadtverwaltung davon nur ein Viertel von der Provinzregierung zurückerhielt. Ein noch größeres Potential liegt in der Nähe der Stadt zum chinesischen Festland, weil von allen größeren Städten Taiwans die Entfernung Taichungs zum Festland am kürzesten ist. Sollte es jemals zu direkten Verbindungen zwischen Taiwan und dem Festland kommen, wird Taichung beim bilateralen Handel kräftig mitmischen können und wegen seiner guten Anbindung ans landschaftlich schöne Zentraltaiwan auch beim Tourismus eine wichtige Rolle spielen.

Was ist so besonders an Taichung? Erstmals besiedelt wurde das Gebiet im frühen 18. Jahrhundert. Für eine lange Zeit war die Landwirtschaft der dominierende Wirtschaftszweig, und auch heute noch ist mehr als ein Drittel des gegenwärtig 163 Quadratkilometer großen Stadtgebietes als Ackerland eingestuft. Investoren wurden erst zu Beginn der neunziger Jahre auf Taichung aufmerksam. Große Kaufhäuser, Restaurantketten, Hotels und internationale Banken sind dort entweder schon vertreten oder planen eine Ansiedlung.

Abgesehen von den offensichtlichen geographischen Vorteilen profitiert Taichung auch sehr von seinen Erfolgen bei Stadtplanung und Zonenneueinteilungsprojekten. Liu Ying-jung, Leiter der Stadtplanungsabteilung im Städtischen Amt für öffentliche Bauarbeiten, erklärt, daß Taichung von den Japanern ursprünglich für 150 000 Einwohner konzipiert worden war. Heute platzt die Stadt mit 900 000 Einwohnern jedoch aus allen Nähten, und täglich pendeln Hunderttausende ins Stadtzentrum.

Ein einheimischer Taxifahrer erinnert sich bei der Fahrt durch einen der Nachtmärkte der Stadt, daß diese Gegend vor fünfzehn oder zwanzig Jahren Taichungs beliebteste Ecke für ein kleines Nachtessen war. Zwar säumen heute noch viele Stände die engen Straßen, aber sie bewirten immer weniger Kunden. "Wenn man nur an den Verkehr und die zeitraubende Parkplatzsuche denkt, vergeht einem schon der Appetit", bemängelt der Fahrer. "Deswegen gehen die Leute lieber zu näheren und leichter erreichbaren Plätzen -- davon gibt's jetzt ziemlich viele -- oder bleiben einfach zu Hause."

Man konnte das Gebiet aber nicht einfach niederwalzen und neu anfangen. Die Stadtplaner stellten das Problem in den Zusammenhang mit der Gesamtentwicklung der Stadt und favorisierten die Gründung eines neuen Zentrums im Nordwesten, wo man auch die den Bedürfnissen der gewaltig gewachsenen Bevölkerung angemessenen Einrichtungen bauen konnte. "Es sollten Unternehmen aus den alten Gebieten angelockt und auf diese Weise dort der Raum- und Verkehrsdruck vermindert werden", erläutert Lin. "Das war auch eine gute Methode zur Erweiterung der Stadt und Entwicklung der Vorstädte."

Mit diesen Vorstellungen nahm man zuerst größere Änderungen an der bestehenden Stadtplanung vor. Ein überarbeiteter Plan wurde im Jahre 1986 von der Zentralregierung formell genehmigt, und die Stadt begann umgehend mit einer Reihe von Zonenneueinteilungsprojekten. "Die Leute interessierten sich nicht für den Besitz von billigem Ackerland, auf dem sie nicht bauen konnten", berichtet Kao Meng-ting, Professor am Institut für Architektur und Stadtplanung an der Feng Chia University in Taichung. "Deswegen waren die Bürger bei der Zonenneueinteilung sehr kooperativ, denn diese Maßnahme erhöhte den Wert ihres Landes sehr und nützte ihnen auch in anderer Weise -- beispielsweise durch die Verfügbarkeit besserer öffentlicher Einrichtungen."

Die großangelegte Zonenneueinteilung ist für Taichungs Zukunft von so zentraler Bedeutung, daß sich eine genauere Betrachtung lohnt. Sie bedeutet nicht so sehr, daß zweckgebundenes Land für einen anderen Verwendungszweck neu klassifiziert wird, auch wenn das natürlich unbedingt dazugehört. In einem typischen Fall wird Ackerland zu kommerziellem Land und erhöht so die Menge verfügbaren Landes für notwendige Einrichtungen wie Bürogebäude, wodurch die wirtschaftliche Entwicklung gefördert wird. Der Landbesitzer profitiert, weil kommerzielles Land mehr wert ist als Ackerland. Die Regierung profitiert, denn mit den von Landbesitzern zu zahlenden Gebühren für die Zonenneueinteilung können die Behörden so viel Land für öffentliche Projekte wie Schulen und Straßenbau bereitstellen, wie sie brauchen. Die landkaufenden Behörden brauchen keinen so großen Etat und bekommen das Land für öffentliche Bauvorhaben umsonst. Ein zusätzliches Plus ist, daß nach Abschluß der Zonenneueinteilung die landkaufenden Behörden zuweilen feststellen, daß sie zuviel Land haben und es weiterverkaufen können. Der Erlös wird dann zur Finanzierung weiterer öffentlicher Projekte verwendet.

Das Gebiet um die Chungkang Road zwischen Taiching und dem Hafen ist Taichungs neuestes Handelszentrum geworden. Die gewerblichen Mietpreise sind viel niedriger als in Taipei.

Auf diese Weise erhöhte die neue Stadtplanung nicht nur die Menge verfügbaren Landes für industrielle und wirtschaftliche Entwicklung, sondern verbesserte auch allgemein den Standard der Gegend, indem Raum für öffentliche Einrichtungen wie Abfalldeponien, Müllverbrennungsanlagen und Friedhöfe geschaffen wurde. "Sowas will ja keiner vor seiner Haustür haben", weiß Kao, der bei der Überarbeitung der Stadtplanung seit 1982 eine Schlüsselrolle gespielt hatte. "Glücklicherweise konnte Taichung solche Einrichtungen früh genug planen, denn je später man so etwas plant, desto mehr Schwierigkeiten tun sich auf."

Der Versuch der Gründung eines zweiten Stadtkerns läuft ebenfalls gut. Von dem alten Stadtgebiet um den Bahnhof herum hat sich viel Handel zur Chungkang Road verlagert, einer breiten Durchgangsstraße zwischen Taichung und dem Hafen. Das Evergreen Laurel Hotel, das Sogo-Kaufhaus und die Taichung-Filiale der Bank of America befinden sich alle in diesem Gebiet.

Diese erfolgreiche Kombination von überarbeiteter Stadtplanung und Zonenneueinteilung ist zu einem Modell für viele Städte und Kreise Taiwans geworden, hat aber zweifellos auch eine Schattenseite. Durch die Zonenneueinteilung wurden viele arme Bauern in Taichung zu Taiwandollar-Milliardären. Danny Lin vom Evergreen Laurel Hotel erinnert sich, daß nach der Eröffnung des Hotels vor fünf Jahren diese Neureichen sich oft Banketts servieren ließen, die zehnmal so teuer waren wie die Gerichte auf der Speisekarte, nur um mit ihrem Reichtum anzugeben. "Der Wandel kam zu schnell", kritisiert Liu Ying-jung von der Stadtverwaltung. "Die Einwohner übersahen die Tatsache, daß eine Anpassung ihrer Lebenseinstellung genauso wichtig war."

Nicht nur Liu denkt so. "Zur Zeit ist Taichung zur Hälfte städtisch und zur Hälfte ländlich", findet Dan Lee, geschäftsführender Direktor der Taichung-Immobilieninvestmentgesellschaft. "Sicher hat äußerlich eine starke Verstädterung stattgefunden, aber viele Leute haben noch eine bäuerliche Denkweise." Eigentlich ist nach Lees Ansicht die Bewahrung mancher alten Werte gut. Tatsächlich zog ihn der "halb ländliche" Charakter der Stadt nach vorübergehender Tätigkeit in Taipei zurück nach Taichung. "In Taipei läuft alles nach strengen Spielregeln", sagt er. "In Taichung kommt es aber vor allem auf die menschlichen Beziehungen an."

Als Beispiel weist er darauf hin, daß sich in Taichung niemand darüber aufregt, wenn Gäste sich etwas verspäten, und man nimmt sich sogar gerne etwas Zeit für unangemeldete Besucher -- die in Taipei normalerweise scheel angesehen würden. In Taipei kommt man in der Regel auch gleich zur Sache, wogegen ein typisches Meeting in Taichung für gewöhnlich mit Tee und einem Plausch beginnt. "Wir wollen hier nicht einfach nur Geschäfte machen, sondern auch Freundschaften schließen", betont Lee. "Unter Freunden sind Geschäfte nie ein Problem."

Der menschliche Faktor spielt in Taichung eine große Rolle, denn die Stadt war lange ein anerkanntes Zentrum für kleine und mittlere Unternehmen, für die ein effektives Netz mit guten zwischenmenschlichen Kontakten unentbehrlich ist. "Taipei ist das Zentrum für die großen Firmen und Kaohsiung für die Schwerindustrie", stellt Lee fest. "Leute mit nur wenigen Millionen NT$ (1 Million NT$ = 55 000 DM) haben dort keine Chance, aber hier kommen sie gut zum Zuge."

Als Beispiel führt er die Immobilienbranche an. In Taipei haben nur ein paar große Firmen das nötige Geld für die astronomischen Immobilienpreise. In Taichung betragen die Bodenpreise hingegen nur ein Drittel von denen in Taipei, daher gibt es noch Platz für Geschäftsleute mit begrenztem Kapital. Gegenwärtig tummeln sich auf Taichungs Immobilienmarkt Hunderte kleiner Firmen, bei denen oft nur zwei Leute -- der Chef und ein Rechnungsführer -- den ganzen Laden schmeißen. Sie übernehmen individuelle Projekte und vergeben das Design, den Bau und den Verkauf an Subunternehmer.

Bei größeren Projekten, die die Kräfte kleinerer Firmen übersteigen, schließen sich mehrere von ihnen zusammen, erledigen den Auftrag, teilen den Gewinn und gehen dann wieder getrennte Wege. "Solche Geschäftspraktiken findet man überall, aber in Taichung funktioniert das besser als woanders", behauptet Lee. "Die Beziehungen beruhen hier auf einer freundschaftlichen Basis, deswegen gibt es nicht so viel Neid und Mißtrauen wie bei Partnern, die sich aus rein geschäftlichen Gründen zusammengetan haben."

Solch enge Beziehungen zwischen kleinen und mittleren Unternehmen haben es manchen Firmen ermöglicht, mit Taiwans steigenden Bodenpreisen zurechtzukommen. Der bekannte Nähmaschinenfabrikant Singer blieb nur deswegen in der Stadt, weil er bereits über Jahrzehnte ein Netz aus Beziehungen mit verschiedenen Zuliefererbetrieben aufgebaut hatte, und die Singer-Manager wußten, daß sie dieses einzigartige Netz sonst nirgends in der Welt neu knüpfen könnten.

Wegen Taichungs Entwicklungspotential erreichte die Bank of America –wie auch fünf andere ausländische Banken—eine Filiale in Taichung.

Freundschaft hat jedoch auch ihre Grenzen. Manche der kleineren und mittleren Unternehmen der Leichtindustrie sind abgewandert, doch in diese Lücke sind nur wenige Neuanfänger aus dem High-Tech-Bereich nachgerückt. Die meisten High-Tech-Firmen Taiwans sitzen noch im Norden der Insel, und die Mehrheit der internationalen Handels- und Finanzorganisationen geht ihren Geschäften in Taipei nach, deswegen können viele Bürofachleute nicht ohne weiteres nach Taichung umziehen, weil es dort zu wenig Jobs gibt.

Ob als Magnet für kleinere und mittlere Unternehmen oder als Stadt mit einer zukünftigen Anziehungskraft für größere Firmen, Taichung hat seit jeher alle dafür nötigen Änderungen selbständig vorgenommen. "Die Leute aus Südtaiwan ärgern sich darüber, daß sich die Zentralregierung weniger um sie als um Taipei kümmert", bemerkt Lee. "Ich gehe noch weiter: Ich würde sogar sagen, daß die Zentralregierung nicht einmal weiß, daß wir überhaupt existieren." Diese desinteressierte Einstellung bei Teilen der Zentralregierung hat viele Entwicklungsprojekte in Taichung behindert.

Da ist beispielsweise die Stadtbahn (Mass Rapid Transit System , MRT). Der öffentliche Personennahverkehr ist schon lange Taichungs Sorgenkind. Nicht viele Einwohner sind bereit, auf einen der wenigen klapprigen Busse zu warten, die dann auch nur in großen Intervallen auf den wichtigen Routen verkehren, und benutzen statt dessen eigene Fahrzeuge, was natürlich wiederum Verkehrsprobleme verursacht. Eine Schnellbahn könnte da Abhilfe schaffen, aber die erste Linie, deren Fertigstellung ursprünglich für das Jahr 2000 vorgesehen war, soll nun erst im Jahr 2014 eröffnet werden. Die Bauarbeiten haben noch nicht einmal begonnen.

Der Regionalverkehr ist wegen der Überlastung der Sun Yat-sen-Nordsüdautobahn ebenfalls ein zunehmendes Problem. Ein Plan für eine zweite Autobahn in Zentraltaiwan wurde 1989 entworfen, dann aber wie bei der Schnellbahn verschoben, und eine definitive Trasse wurde auch noch nicht festgelegt. "Wir haben schon von einem ganzen Haufen Plänen gehört", brummt Lee. "Autobahn, internationaler Flughafen, Schnellbahn. Aber so lange die Zentralregierung mitmischt, bleiben die Pläne das, was sie sind, nämlich nur Pläne."

Wieso vernachlässigt die Zentralregierung Taichung eigentlich so hartnäckig? Ein Grund könnte sein, daß bisher kein Politiker aus Taichung in der Zentralregierung genügend Macht und Einfluß erwerben konnte, um der Stadt Gehör zu verschaffen. Das Fehlen einer solchen Gestalt rührt nach Ansicht vieler Menschen in Taichung von ihrer mangelnden Begeisterung für Politik her. In Taipei und Kaohsiung kann man problemlos eine Demonstration organisieren, und viele Leute dort gehen gern zum Dampfablassen oder zur Verkündung ihrer politischen Überzeugungen auf die Straße. In Taichung gab es aber bisher überhaupt keine Demos.

Wofür setzen sich die Einwohner der Stadt denn dann ein? Ganz oben auf der Liste rangiert öffentliche Sicherheit. Danny Lin ist wegen der anhaltenden Stagnation bei der Gastronomie seines Hotels darüber tief besorgt. "Wenn die Leute Angst um ihre Sicherheit haben, gehen sie nur dann aus, wenn sie unbedingt müssen", resümiert er. "Wenn die Menschen zu Hause bleiben, gibt es keine geschäftlichen Aktivitäten, und die Wirtschaftsentwicklung wird ins Stocken geraten."

Lin räumt ein, daß das Hotel die vor fünf Jahren gesteckten Ziele nicht erreicht hat. Außer der Frage der öffentlichen Sicherheit haben noch andere Faktoren die ursprünglichen Berechnungen der Geschäftsführung beeinträchtigt, nämlich die mangelnde Verbesserung des regionalen und internationalen Verkehrs sowie der zu langsame Fortschritt bei den Beziehungen über die Taiwanstraße. Beide Bereiche sind wegen politischer Erwägungen und besonders wegen der vielbeklagten Politik und Einstellung der Zentralregierung kompliziert.

Trotz dieser Schwierigkeiten schaut Taichung optimistisch in die Zukunft. Grund zur Freude haben natürlich die Stadtplaner. "Für einen Planer wie mich ist das größte Kapital jeder Stadt sein Potential, materiell, kulturell und ökologisch zur bestmöglichen Lebensumgebung für die Menschen zu werden", postuliert Kao Meng-ting. "Taichung ist zwar noch nicht soweit, aber der Entwurf ist bereits vollendet, und die Stadt geht in die richtige Richtung."

(Deutsch von Tilman Aretz)

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